Das Spiel mit Orten – Interview mit AR-Künstlerin Tamiko Thiel

Tamiko Thiel ist Pionierin der Digitalen Kunst und hat sich auf Augmented Reality spezialisiert. Ihre AR-Installation im donumenta ART LAB Gleis 1 am Hauptbahnhof in Regensburg läuft bis zum 14. November 2021. Im Interview erzählt Tamiko Thiel, was ihr Interesse im Spannungsfeld zwischen Kunst und Technik befeuerte.

Technik und Kunst. Wie geht das in Deinem Leben zusammen? Wie fing das an?

Mein Vater, Philip Thiel, war Schiffsbauingenieur und lehrte am MIT, dem Massachusetts Institute of Technology. Sein Büro war neben dem von György Kepes. Der Ungar war mit László Moholy-Nagy in die USA gekommen, um in Chicago am New Bauhaus zu lehren und später das erste Zentrum für Kunst und Wissenschaft, das Center for Advanced Visual Studies (CAVS) am MIT in Cambridge, Massachusetts, zu gründen. György hat meinen Vater verführt. Mein Vater wollte heraus aus seinem sehr vom Militär geprägten Beruf. Er ist durch Kepes Einfluss Architekt geworden, aber nicht so sehr einer, der Häuser baut. Vielmehr hat ihn interessiert, was man erlebt, wenn man durch den Raum geht, auch durch den urbanen Raum. Seine Theorien waren tatsächlich die Basis für meine Virtual-Reality-Arbeiten ab Mitte der 90er Jahre. Mein Vater war mit der Wahrnehmung der Umgebung beschäftigt. Das übte starken Einfluss auf mich aus. Sein Übertritt von der Ingenieurwissenschaft zur Architektur war 1950. Ich bin 1981 ans MIT gegangen, um meinen Master in Maschinenbau zu machen – und bin ebenfalls durch Kepes Einfluss als Medienkünstlerin herausgekommen.

Dazu kam, dass ich in einem Haus aufgewachsen bin, wo Kunst, Design und Ingenieurwesen nah beieinanderlagen. Meine Mutter ist Künstlerin, hat am Anfang ihrer Karriere abstrakte Holzschnitte gemacht, wandte sich mehr und mehr den traditionellen japanischen Künsten zu und wurde Kalligrafiemeisterin. Ich wuchs in einem sehr designgeprägten Haushalt auf und wenn ich früher geboren wäre, wäre ich wohl Architektin geworden. Tatsächlich bin ich aber spät genug geboren, um an der Stanford University Product Design zu studieren, damals eines der wenigen Fächer, in denen Maschinenbau, Kunst und Design gelehrt wurde.

Später hab‘ ich bei der Ingenieursfirma Hewlett-Packard gearbeitet. Das war nicht zufriedenstellend für mich, aber ich wusste nicht, was ich sonst machen könnte. Ich wollte einen ganz anderen Blickwinkel. Den hab‘ ich dann am MIT gefunden, in den Fächern die aus György Kepes‘ Initiative, Kunst und Technologie am MIT zu vereinigen, entstanden sind. 

Ich hatte Kurse in Computer Grafik belegt, Fotografie, Kunst … Nach meinem Diplom im Jahr 1983, wurden diese Fächer in dem neu entstandenem MIT Media Lab vereint. – Ja, die Einflüsse vom Bauhaus und der japanischen Kunst waren sehr prägend für mich.

Was fasziniert Dich an der Augmented Reality?

1982 hatte ich am MIT gelernt, Computergrafik zu programmieren. Damals hat man wochenlang programmiert, um eine Schachtel zu erzeugen, die sich dreht! Das war mühsam und ich hab‘ überlegt, die Weiterentwicklung der Computergrafik erstmals ab zu warten und was anders mit der Medienkunst zu machen. Dann, gleich nach dem Diplom, hat mein Freund Danny Hillis aus dem MIT AI Lab mich als leitende Designerin des Gehäuses für die Connection Machines CM-1 und CM-2 abgeworben. Es war der erste Supercomputer mit Künstlicher Intelligenz und ist heute in der Sammlung des Museum of Modern Art in New York. Ich musste mich damals nicht um die Kosten kümmern, weil die Maschine sowieso sehr teuer war und drei bis fünf Millionen Dollar gekostet hat. Es sollte ein Design werden, das der Kunde noch nie gesehen hatte. Ich habe überlegt, wie Künstliche Intelligenz in Zukunft aussehen könnte. Was hat der Mensch für Träume? Wie kann Technik aussehen, die dem Menschen hilft? Wie kann ich einen Computer als „Teil der Familie“ gestalten? Aber auch: Wie kann die Form der Maschine etwas über ihre innovative Bauweise zeigen, die die Maschine so einzigartig macht? Die über 64.000 Prozessoren, die über ein 12-dimensionelles Netzwerk miteinander verbunden waren arbeiteten wie Neuronen in einem Gehirn.

Dieses 12-dimensionelles Netzwerk, das die Form eines Kubus aus Kuben hat, hat letztendlich die äußere Form inspiriert: ein schwarzer Kubus aus acht kleineren Kuben, so groß wie ich, mit durchsichtigen Türen, hinter denen wechselnd flackernde LEDs zu sehen sind, damit man sieht, wie die Maschine „denkt“. Die LEDs machen die Maschine erst lebendig. Über die Connection Machine kam ich zur Auffassung von Kunst als Medium, das von der Gesellschaft erzählen soll, von den Menschen und von ihren Träumen. 

Zwischen 1994 und 2010 hab‘ ich mich mit Virtual Reality (VR) beschäftigt. Das war immer sehr ortsspezifisch. Diese Arbeiten spielten sich zum Beispiel in einem US-Internierungslager oder in Venedig ab. Ich hab‘ ein paar Jahre gebraucht, um einen Ort aufzubauen, damit ich überhaupt eine Referenz hatte. Schließlich dachte ich mir, ich kann in meinem ganzen Leben nur noch zehn Kunstwerke machen. Aber ich wusste nicht, was ich sonst tun sollte. Das Spiel mit Orten und Wahrnehmung, und wie VR dem Benutzer ein Erlebnis aus der Ich-Perspektive vermitteln kann, war wesentlich für meine Arbeit.

Im Oktober 2010 bekam ich eine E-Mail von einem Freund in New York. Der hat gesagt, schick mir 3-D-Kunst, ich mache zusammen mit anderen Leuten eine Intervention in MoMA New York. Wir werden AR benutzen, die auf den neuen Smartphones funktionieren. Diese neuartigen Smartphones konnten gerade 3-D-Inhalte verarbeiten. Was für eine Entwicklung! 1982 saß ich noch an Riesen-Computern im MIT, die gerade imstande waren einen sich drehenden Kubus darzustellen. Ein paar Jahrzehnte später hatten Smartphones nicht nur die Rechenleistung, in Echtzeit 3D-Computergrafik zu kalkulieren, sondern diese auch gleichzeitig über die Echtzeit-Aufnahme der eingebauten Kamera zu schichten – was wir Augmented Reality nennen. (Das iPhone 5 hat schon die Rechenleistung der Connection Machine CM-2 erreicht!)

Jetzt musste ich mich nicht mehr um den jahrelangen Aufbau eines Ortes kümmern, sondern konnte zu einem Ort fahren und in diesen Ort einen neuen Inhalt bringen.

Augmented Reality bedeutet im Grunde, einen Ort mit einer neuen Bedeutung aufzuladen. Das ist erweiterte Realität. In der analogen Welt passiert das zum Beispiel bei einer Kathedrale. Da ist ein Ort, an dem sich wunderbare Dinge ereignet haben, ein heiliger Ort sozusagen, und dann entschieden die Menschen dort eine Kathedrale zu bauen, um darauf hin zu weisen.

Oder nehmen wir das Beispiel, die „Drückebergergasse“ hinter der Feldherrnhalle am Münchner Odeonsplatz. Die Nazis hatten an der Ostseite der Feldherrnhalle eine Gedenktafel angebracht, die an die getöteten Aufständischen vom Hitlerputsch erinnerte. Dort sollten Passanten per Hitlergruß ihre Ehre erweisen. Wer das nicht wollte, nahm den Umweg über die Viscardigasse hinter der Feldherrnhalle. Heute erinnern goldene Pflastersteine in der Drückebergergasse an diesen stillen Protest. Für die Leute, die die Geschichte dahinter kennen, wird der Ort aufgeladen. – Augmented Reality ist die neueste Technik wie der Mensch seine Welt auflädt mit Erleben, Wissen oder einfach Phantasie. 

In welcher Hinsicht ist Dein Werk „Enter the Plastocene“ eine ort- und raumbezogene Arbeit?

Wir werden die Beamer jeweils mit einem Smartphone verbinden, auf dem unsere AR-App läuft, und die Beamer so aufstellen, dass sie den Raum im donumenta ART LAB Gleis 1 mit den Bildern aus der App füllen. Vorne gibt es diese enge Stelle. Sie wird in eine Korallenhöhle aus Plastikmüll transformiert und dahinter kommt man in einen offenen Raum mit den herumschwimmenden Fischen, die sich auch in Plastik verwandeln. Wir werden Spots anbringen, die die Gesichter der Besucher anstrahlen. Wenn die Smartphone AR-Apps die beleuchteten Gesichter aufnehmen, werden die Gesichter auch Teil der Projektionen – dann schwimmen die Fische um das eigene Gesicht herum.

Kann ich Dein Werk fotografieren?

Wenn Du mit Deinem Smartphone Fotos machst, kannst Du das festhalten. Zusätzlich wirst Du unsere App herunterladen können. Du hast dann noch eine weitere Ebene auf Deinem Smartphone. Die Fische werden dann im Vordergrund sein, die anderen Besucher im Mittelgrund und die AR-Projektionen im Hintergrund. – Augmented Reality bringt faszinierende Inhalte über die eigentliche Welt hinaus.

Danke für dieses Gespräch, Tamiko.

Das Interview führte Julia Weigl-Wagner

„echo on survival“ – Unter der Erde ist Leben / Interview mit Barbara Sophie Höcherl

Im donumenta ART LAB Gleis 1, inszeniert Barbara Sophie Höcherl bis zum 3. Oktober 2021 das Unscheinbare. Ihre Installationen in der Ausstellung „Echo on Survival“ sind inspiriert von der Natur. 

In diesen Arbeiten unterzieht die Künstlerin ihr Material einer Analyse, untersucht seinen Charakter und prüft Möglichkeiten der Ausarbeitung und Inszenierung. Es ist ein Spiel mit der Balance zwischen organischen und anorganischen Elementen, Naturstoffen und Materialien der Konsumgesellschaft. 

Mit ihren Arbeiten kommentiert Barbara Sophie Höcherl nicht zuletzt die eigene Biografie. Bevor sie an der Westböhmischen Universität Kunst studierte, hatte sie Staudengärtnerin gelernt. Im Interview erzählt Barbara Sophie Höcherl von natürlichen Prozessen und davon wie wichtig es ihr ist, die Natur zu verstehen. 

Zunächst eine grundsätzliche und vielleicht auch schwierige Frage, liebe Barbara Sophie Höcherl. Was treibt Dich an? Wie entstehen Deine Skulpturen?

Mein Antrieb ist die Natur. Da kommt alles her und dahin geht alles zurück. Ich denke in Kreisläufen und weiß als Staudengärtnerin relativ viel über Pflanzen. Die Natur gibt mir Halt, auch als bildende Künstlerin. Es hat ein bisschen gedauert, aber heute behaupte ich, um Natur dreht sich alles. Dann stellt sich für mich die Frage, wie kann ich das formulieren? Wie kann ich das ausdrücken? 

Ich bin verrückt nach Material – Material, das ich vorfinde, Material, das von Menschen gemacht ist und Material, das ich selbst herstellen kann. Meine Arbeiten sind oft fragil, weil sie aus Naturmaterialien bestehen. Sie sind nicht für die Ewigkeit, verändern sich, und gehen vielleicht irgendwann kaputt, weil das Material Schwächen hat und – wie Schaumstoff – keine UV-Beständigkeit. Schaumstoff ist ein gutes Beispiel für einen Stoff, der massenweise vorkommt. Wir liegen und sitzen darauf. Aber wir sehen ihn nicht, weil er immer überdeckt ist. Und in dem Moment, in dem wir Schaumstoff wahrnehmen, ist der Bezug aufgerissen und das Ding, in dem er verarbeitet wurde, muss weg, wird im besten Fall recycelt. In dem Moment, in dem es für andere wertlos ist, wird es für mich interessant. Dann benutze ich es und schaffe daraus einen neuen Wert. Ich zerschneide und untersuche es, dann wird es immer recht systematisch.  

Wie näherst Du Dich dem Material, das Du für Deine Skulpturen benutzt?

Ich frage mich, mit welcher Technik ich das Material verarbeiten kann. Was ist möglich, zum Beispiel mit einem Kirschlorbeerblatt oder einem Seerosenblatt? Ich kann beide nähen, das eine problemlos mit der Maschine, das andere muss ich im frischen Zustand nähen, weil es sonst zerbricht. 

Seit vielen Jahren arbeite ich mit Naturpigmenten. Ich koche Pflanzen mit Essig ein und arbeite mit den so gewonnenen Farben. Sie faszinieren mich. Wenn man eine Blüte vor sich hat, kann man nicht unbedingt sagen, welche Farbe das wird. Und das findet jetzt eben in „Pieces of Babylon“ in der Ausstellung im donumenta ART LAB Gleis 1 seine Entsprechung. 

Da präsentierst Du Schichten von Farben und nennst dieses Werk „Pieces of Babylon“. 

Pflanzengefärbtes Wasser – „Pieces of Babylon“ (Foto: Alexander Rosol)

Das ist die Arbeit in den transparenten Kunststoffkästen. Man kann aus diesen Kästen einen Turm bauen, der aus Versatzstücken aus der Natur besteht, die im Endeffekt nur noch einen Code ihrer früheren Form in sich tragen.

Mir geht es ganz allgemein um eine verstärkte Wahrnehmung: Wie kann ich Natur neu wahrnehmen und besser mit ihr umgehen. Und mit meinen Arbeiten vielleicht auch die Aufmerksamkeit auf Diskrepanzen richten. Vieles ist irreparabel zerstört. Wir können nicht mehr zurück, wir können nur noch vorwärts. Das erfordert für die Zukunft auch neue Sichtweisen. 

Was ist am donumenta ART LAB Gleis 1 so interessant, um diese Sichtweise zu vermitteln?

Dass sich der Raum unter der Erde befindet und im botanischen Sinn somit etwas Ursprüngliches hat. Unter der Erde passiert das Elementare – Wachsen und Vergehen. Man ist im ART LAB von einer Geräuschkulisse umgeben, die irgendwie surreal und wie gefiltert wirkt. In der Ausstellung geht es auch darum, den Ausstellungsraum bewusst wahrzunehmen und sich klarzumachen, wo er sich befindet.

Was verbindest Du mit dem Titel Deiner Ausstellung „Echo on Survival“?

Echo ist Widerhall und eben auch Rückmeldung oder Antwort. Ein Echo hat aber auch etwas Verzerrtes, es ist eine in sich instabile Form.

Und „Survival“? Es geht im Endeffekt um Kreisläufe in der Natur und vor allem darum wie wir sie unter den momentanen Gegebenheiten aufrechterhalten können. Ich bin der Meinung, wir müssen neu lernen, Pflanzen zu beachten, zu sehen und von ihnen zu lernen.

Und dazu leistest Du mit der Ausstellung „Echo on Survival“ einen sehr sinnlichen Beitrag. 

Meine Ausstellung will Menschen in einen Gefühlszustand versetzen, sie für die Wahrnehmung von Natur sensibilisieren. Ich glaube wir leben in einer Zeit, in der wahnsinnig viel verloren geht, vielleicht unwiederbringlich. 

Es geht darum, Neues zu erlernen, einen neuen Blick auf die Dinge zu erhalten. Ich wusste zum Beispiel nicht, dass Bäume anscheinend vor allem nachts wachsen. Ich finde es wahnsinnig spannend, wie viele neue Erkenntnisse uns die Wissenschaft mittlerweile liefert. Da gibt es so viel, was buchstäblich noch im Dunkel liegt.

Was ich damit sagen will: Hey, es ist so ein fantastischer Planet. Let’s do it!

Danke Barbara Sophie für dieses Gespräch.

Kabinett der starken Bilder – Ausstellung „Lebensräume“ von Gudula Zientek in Amberg

Sich in einer Laudatio Gudula Zienteks Bildwelten zu nähern, ist ein besonderes Vergnügen. Am Freitag hatte ich anlässlich der Ausstellungseröffnung „Lebensräume“ in Amberg die Gelegenheit dazu. Die Stadt Amberg widmet der Künstlerin eine Einzelausstellung in der Alten Feuerwache beim Stadtmuseum.

Selbstportraits der Künstlerin

Neben dem fiktiven Portraitserie „du denkst nur du kennst mich“, zeigt die Ausstellung im so genannten „Schwarzen Kabinett“ den Zyklus „Böse Menschen“, weil die Karikatur oft das einzige Mittel ist, der Wirklichkeit zu begegnen. Die Illustrationen zum Märchen vom „Fischer und seiner Frau“ thematisieren die Gier und den touristischen Ausverkauf von Zienteks Wahlheimat an der Ostsee. Figuren des früheren Puppentheaters „Pupille schief“ der Künstlerin zeigen einen weiteren Aspekt ihres Schaffens. Großartig ihre ebenso skurrilen wie tiefgründigen Objektkästen aus Pappmaché, Zeitungs- und Backpapier.

Die Ausstellung in der Alten Feuerwache beim Stadtmuseum in Amberg, Zeughausstraße 18, 92224 Amberg ist bis 26. September 2021 zu sehen.

Beitragsfoto: Aus dem Linolschnitt-Zyklus „Vom Fischer und seiner Frau“

Laudatio anlässlich der Ausstellungseröffnung „Lebensräume“ von Gudula Zientek.

Über das Denken in elliptischen Bahnen – Interview mit Notburga Karl

Die Bildhauerin Notburga Karl ist bekannt für ihre Kunstprojekte im öffentlichen Raum. Anlässlich des 450. Geburtstag des Mathematikers und Astromonem Johannes Kepler widmet die Künstlerin ihre Ausstellung „K wie …“ der Ellipse. Schließlich steht im ersten der Kleplerschen Gesetze, dass sich die Planeten nicht in regelmäßigen Kreisbahnen um die Planeten bewegen, sondern in Ellipsen. Im Interview erklärt Notburga Karl, warum die Ellipse so wichtig ist und wer sich in Kunst und Philosophie sonst auf die Ellipse bezogen hat. Notburga Karls Ausstellung ist noch bis zum 22. August 2021 im donumenta ART LAB Gleis 1 am Hauptbahnhof Regensburg zu sehen.

Herzlich Willkommen, Notburga Karl, zu diesem Interview anlässlich der Ausstellung  „K wie …“. Was bedeutet „K wie Kontingenz“? – So hattest Du ursprünglich getitelt.

K wie Kontingenz, K wie Karl – das bin ich, K wie Johannes Kepler – das ist der Astronom und Mathematiker auf den ich mich in dieser Ausstellung beziehe, K wie Kounellis, das ist mein Arte Povera Prof., es gibt so viele Ks, K wie Klaus, K wie Körperlichkeit und Krise, K wie Konzept, K wie Kunst und Kosmos, wie kaputt, wie Katastrophe, Katapult, wie Konsumkritik … Ich könnte diese Reihe unendlich fortsetzen. Kontingenz: Das ist eine Möglichkeit und gleichzeitige Nichtnotwendigkeit. Für mich als Künstlerin hat Keplers physikalischer Begriff der kosmischen Leere auch eine poetische Dimension.

Was fasziniert Dich als Künstlerin an dem Astronomen und Mathematiker Johannes Kepler?

Kepler ist ja ein unglaublich bedeutender Wissenschaftler, der sehr viel prägendes Gedankengut hinterlassen hat. Ein Wissenschaftler denkt aufgrund seiner Forschungsaufgabe anders als ein Künstler, wobei sich beide auch wieder sehr nah kommen können. Auch ein Wissenschaftler wie Kepler war, ähnlich wie ein Künstler, auf seine Intuition und Imaginationskraft angewiesen.

Ganz konkret: Vor Kepler lag Tycho Brahes Daten-Material, das seinem gesamten angestammten Weltbild widersprach. Er hatte ja vorher über die Harmonie der Welt geschrieben. Es muss ihm wie ein Frevel an diesem Weltbild vorgekommen sein, in seinen Gesetzen die Kreisform zu verlassen und stattdessen konsequent zu formulieren: Die Planeten kreisen in elliptischen Bahnen um die Sonne. Deshalb ist er auch so einschlägig geworden. Verbrannt wurde er dafür nicht mehr.

Wie kam es dazu, dass Du Dich mit ihm beschäftigst?

Ich fand es interessant, dass sich auch Aby Warburg explizit auf die Ellipse bezieht. Dieser Kunst- und Kulturwissenschaftler, der mich eine Zeitlang beschäftigte, hat in seine Hamburger Bibliothek diese Ellipse hineingebaut. Für mich als Künstlerin ist die Ellipse deshalb so wichtig, weil es die Form ist, in der der statische Kreis Fahrt aufnimmt. Die Ellipse steht für das Aufbrechen von gefestigten, zu schön gewordenen Formen. Das macht die Ellipse zu einem starken Symbol. Warburgs Bibliothek mit ihrem elliptischen Grundriss ist nicht nur ein Ort der abgestellten Bücher, sondern auch ein Denkort oder aus künstlerischer Sicht sein geistiges Atelier, in dem verschiedene Denk- und Handlungsformen praktiziert werden. Bekannt geworden ist Aby Warburg auch durch seinen Mnemosyne-Atlas, der zum Methodenprogramm der Bildwissenschaft avanciert ist. Ein Bild ist kein fixes Lehrstück, sondern Ausdruck eines dynamischen Denkens und Wahr Nehmens. Kennst Du die Geschichte, dass er – der erstgeborene Bankhaus-Sohn – auf sein Erbe verzichtete, aber dafür von seinem Bruder jedes Buch bekam, das er wollte? Falls es nicht stimmt, mag ich den Mythos. Er orientiert.

Schöne Geschichte, die gefällt mir auch.

Eine weitere freudige Entdeckung an Kepler: Er hat sich auch mit Optik beschäftigt, mit der Brechkraft von Linsen, mit Ein- und Zweiäugigkeit. Und da haben wir sie wieder, die Ellipse, dieses Rausschieben auf einen zweiten Mittelpunkt, das Ambivalente. Dynamisch gesehen ist Ambivalenz wunderbar. Sie impliziert das Abwägen und Anpassen an Situationen. – Diese in Bewegung geratene Perspektive appelliert an meinen – K wie konzeptionellen Kunstansatz.  

Auch Marcel Duchamp hat sich dezidiert mit Optik beschäftigt. Da gibt es wunderbare Werke, zum Beispiel die Roto Reliefs mit einem umfunktionierten Plattenspieler. Er hat sich einschlägige wissenschaftliche Informationen beschafft und seine Notizzettel – als Gedankenspuren – in der so genannten Weißen Schachtel zum Kunstwerk erklärt. Ein dichter mentaler Denkraum, diese Zettelboxen – es gibt mehr davon. In diesen Denkkästchen hinterlässt er ein Denken in relativen Bezügen, in dem sich der frühneuzeitliche Rationalismus à la René Decartes auflöst und damit die Dominanz einer einäugigen Perspektive. Das Machtvolle dieser einäugigen Perspektive ist ja bekannt – das reicht ja bis zu Schussbahnen – nicht nur die der Fotografie. Das Bipolare der Ellipse löst auch den statischen Kreis auf. Auch Aby Warburg hat sich sehr mit dem Bipolaren beschäftigt und Kepler übrigens als den ersten modernen Denker herausgestellt. Das sind die Denkstränge, die mich interessieren, und sie verknoten sich für mich mit Kepler wunderbar. – So kann ich trotz all der schweren Thematik mit einem humanistischen Weltbild flirten.

Wenn ich die Ellipse als Kreis setze, der Fahrt aufgenommen hat, dann ist da auch das Elastische drin, das Geschmeidige. Das ist für mich als Bildhauern wichtig. Man denkt, in der Bildhauerei gäbe es fixe Kanten und Grenzen. Das ist nicht so. Die Frage ist, wie ein Körper erfahrbar wird, der in seinen Grenzen einen Spielraum hat. Bei Kepler, da bewege ich mich an der Grenze zwischen einer Wissenschaftlerin und einer Künstlerin und befinde mich in einer Zeit, in der sich das Denken bricht. Kepler ist ein gutes Beispiel dafür, wie viel Mühe es kostet und wie lange das dauert, bis neues Denken, Umdenken gelingt.

Können wir die Form der Ellipse als Metapher nutzen, um uns aktuellen gesellschaftlichen Herausforderungen zu stellen, umzudenken?

Warum nicht? Umdenken dauert, es macht Mühe und geht nicht so schnell. Da hängt Schwerkraft drin. Wir sehen das aktuell im Zusammenhang mit dem Umweltschutz oder der Klimadebatte. Man ist ja immer wieder verwundert, wie lange so etwas dauert. Auch wenn die Evidenzen da sind. Das Handeln muss von bestehenden Zusammenhängen entkoppelt werden. Dazu braucht es Mut. Sich selbst bipolar zu betrachten, hilft.

Es ist einfacher Ideale zu haben und schwieriger eine Ellipse auszuhalten. Die perfekte Form ist vielleicht ein Grundbedürfnis, obwohl es sie in der Natur nirgends gibt. Kepler ist eine Übung in Ernüchterung. Das ist ein sehr versöhnlicher Ansatz. Man kann sich total für die Ellipse begeistern. Der absolute Kreis kommt auch ohne uns aus. Das hat auch Warburg so fasziniert an dieser Denkform, die in Bewegung bleibt und auch nie zur Ruhe kommt. Der Anfang ist die Bewegung und nicht der Stillstand. Möglicherweise – um das ganze medial zu hinterfragen – sind statische Bilder verantwortlich für ein statisches Weltbild.

Der Astronom und Himmelsforscher im donumenta ART LAB Gleis 1 der ehemaligen Fußgängerunterführung am Hauptbahnhof? Warum passt Deine Installation in diesen ungewöhnlichen Kunstraum?

Was im Tunnel angelegt ist, ist – konzeptuell gesehen – ein Fernrohr. Und dann ist da – im Querschnitt – eine halbe Ellipse. Ich bin von meinem Grundverständnis her eine Bildhauerin und deshalb brauche ich etwas, was mich hinauskatapultiert aus dieser Röhre. Ich bin fündig geworden bei einem ausgebrannten Auto. Das Verbrennen und das Verglühen eines Sternes waren mir in den Sinn gekommen. Dieses ausgebrannte Auto ist jetzt das Gefährt, wie ein Platzhalter. Konzeptuelle Kunst hat ja ein intrinsisches Darstellungsproblem. Dagegen kann sich vom Gefährt aus nun etwas Widerständiges entwickeln, um nicht in meinem Fernrohr oder in der Projektion in die Ferne verloren zu gehen. Es ist ein Platzhalter, ein Unort, eine raum-zeitliche Setzung, ähnlich einem Modell, um daraus etwas zu entwickeln. Die extreme Tiefe des Tunnels ist auch spannend. Man kann über Tiefenabstände arbeiten. Ich verfolge im Tunnel tatsächlich einen sehr bildhauerischen Ansatz. Ich arbeite mit etwas sehr Handfestem, mit Ton. Das rudimentär Unspektakuläre finde ich faszinierend und versuche meine Idee sehr bildhauerisch handwerklich umzusetzen. Ton ist ein tolles Material und die Ellipse spielt ihre Rolle in einer künstlerisch transformierten Form.

Dann die Überlegung: Meteoriteneinschläge – von anderen Sternen liegen Gesteinspartikel auf der Erde herum. Sterne sind so wahnsinnig weit weg und immer ein Bild für etwas Großes, das so klein werden kann wie Meteoritenreste, die irgendwo eingeschlagen sind. Es gibt Forscher, die Sternoberflächen in Geräusche umwandeln. Das Darstellungsproblem Stern – als Konzeptkünstlerin interessiert mich die Darstellung. Auf was kann ich zurückgreifen? Wann geht etwas verloren? Wie kann ich etwas hinzugewinnen?

Es ist auch eine Kritik an der Repräsentation, weil es Phänomene gibt, die sich nicht einfangen lassen.

Die Ausstellung im donumenta ART LAB Gleis 1 wird auch von der Haptik leben, vom sich Herantasten, vom Ausloten.

Was wünschst Du Kepler zum Geburtstag?

Dass er in Erinnerung bleibt – über Jahreszahlen und Gedenktafeln hinaus.  

Vielen Dank für dieses Gespräch, Notburga.

Das Interview führte Julia Weigl-Wagner am 19.06.2021

Foto: Parabelle – Installation von Notburga Karl im Kepler-Denkmal in Regensburg (Foto: Anatol Schmid)

Beton und Marathon – Herzlichen Glückwunsch Ludwig Schierer zum 90. Geburtstag

Ein Marathonläufer wie er im Buche steht, das ist Ludwig Schierer. – Dieses Buch hat der Jubilar zu seinem 90 Geburtstag geschrieben und ich durfte ihn dabei als Lektorin unterstützen. Pünktlich zum 90. Geburtstag erschien die Biografie „Beton und Marathon“ in einer 1.000 Stück mit Erinnerungen an viele Menschen, denen Ludwig Schierer als Sportler, Ehemann, Vater, Großvater und Geschäftsmann im Laufe seines bisherigen Lebens begegnet ist. Heute feiert er seinen 90. Geburtstag.

Stadtgeschichtlich interessant

Den Ausschlag, diese Biografie zu schreiben, haben seine Enkelsöhne gegeben, erzählt Schierer. Freund und Rechtsanwalt Ludwig Wanninger überzeugte den Jubilar schließlich davon, seine Biografie drucken und als Buch herausgeben zu lassen. Jetzt liegt ein Werk vor. Es reicht weit über das Familiäre hinaus und bezieht auch die stadtgeschichtliche Perspektive ein. Zahlreiche Fotos zeigen Ansichten von Cham oder vom Regen seit den 30er Jahren. Berichte vom Krieg gehören zu den traurigen Kapiteln im Leben des Ludwig Schierer. Doch berichtet der Zeitzeuge mit großem Stolz vom Mut des eigenen Vaters, der bei Kriegsende zum Wohle der Stadt Cham einen Befehl verweigerte.

Die Ansichten des Betriebsgeländes der Firma Schierer reflektieren die Unternehmensentwicklung von ihren Anfängen. Ludwig Schierers Text erzählt von den Ersten Lkws, vom Transportbeton und von Grundstücksgeschäften, die getätigt wurden, um das Betriebsgelände zu arrondieren.

Laufen, radeln, kraxeln, wallfahren

In schriftlichen und fotografischen Erinnerungen schlägt sich die Sportbegeisterung Schierers nieder. Seine Leidenschaft für den Ausdauersport begann mit dem Arber-Ski-Marathon. Schierer erlief sich in Moskau, New York, Athen, Berlin und vielen anderen Städten Medaillen. Er lief und lief und lief, radelte, kraxelte, wallfahrtete und rief die legendäre Schierer-Arberwanderung ins Leben, die vielen Mitarbeiterinnen sowie Chamerinnen und Chamern aus dem eigenen Erleben ein Begriff ist.

Kapelle gestiftet – Söhne und Enkel gefördert

Leserinnen und Leser der Biografie Ludwig Schierers erfahren schließlich, warum der Autor in Rissing eine Kapelle gestiftet hat und wie er seine Söhne und Enkelkinder förderte. Das Unternehmen Ludwig Schierer GmbH ist nach wie vor ein Familienunternehmen. Sohn Bernhard folgt dem Vater in der Geschäftsführung des breit aufgestellten Betriebs nach.

Die Gegenwart besser verstehen

Der 90jährige Ludwig Schierer hat sein Leben aufgeschrieben. Mit seiner Biografie lädt er alle ein, die mit sich mit ihm auf eine Reise in die Vergangenheit begeben wollen. Doch tut er das nicht aus romantischen oder nostalgischen Beweggründen. Sein Credo: „Wenn man sich einmal genauer anschaut, was früher passiert ist, versteht man die Gegenwart besser.“ – Das ist Ludwig Schierers Überzeugung.

Alles Gute zum Geburtstag, Gesundheit und Glück.

Ludwig Schierer: Beton und Marathon, Perlinger Druck GmbH Furth i. Wald 2021, 144 Seiten, ISBN: 978-3-00-068861-4, 14,80 Euro – im Buchhandel erhältlich.

Industriedenkmäler in der Oberpfalz – ein Online-Ortstermin

Eigentlich sollte der Ortstermin in Maxhütte-Haidhof stattfinden, im Garten von Franz Schmidkunz. Der Kunsthistoriker lebt mit seiner Familie in einer der ehemaligen Direktorenvillen des früheren Eisenwerks. Sein Einsatz ist ein Beispiel für die vielen privaten Initiativen, die sich in der Oberpfalz des industriellen Erbes annehmen. #denkmalnetzbayern #BayerischerLandesvereinfürHeimatpflege

Zeugnisse der Eisen-, Glas- und Porzellanindustrie sowie der Maxhütten in Haidhof und Sulzbach-Rosenberg waren Thema beim Online-Osrttermin des Denkmalnetz Bayern beim Bayerischen Landesverein für Heimatpflege e.V. (Screenshot Julia Weigl-Wagner)

Im Online-Symposium am Freitag stellt Initiatorin und Moderatorin Dr. Birgit Angerer die Frage, wie das Engagement für die Industriegeschichte in der Oberpfalz gebündelt werden könne. Sie gibt einen Überblick über Publikationen und Statements, formuliert den Status quo und streift hoffnungsvolle bis traurige Kapitel im Umgang mit dem industriellen Erbe der Oberpfalz.

Die Papierfabrik in Alling – ein Beispiel

Die Papierfabrik in Alling sei so ein Beispiel. Spezialisiert auf die Herstellung von Endlospaier ist die Industrieanlage mit der Geschichte von Verlag und Druckerei Friedrich Pustet in Regensburg verbunden. – Das Ensemble mit Bahnhof, Werkssiedlung und Produktionsgebäuden bei Regensburg verfalle zusehens. Auf der anderen Seite lobt Birgit Angerer die Staatlichen Industriemuseen in Bayern, das Textilmuseum in Augsburg, das Porzellanikon in Selb oder das Glasmuseum im niederbayerischen Frauenau. „Eigentlich wäre es angesagt, dass es auch in der Oberpfalz so ein Museum gäbe und wenn dann jemand argumentiert, dass es in Regensburg ja das Haus der Bayerischen Geschichte gibt, dann ist das tatsächlich kein Ersatz“, sagt Angerer.

Arbeiterhäuser nach Modellen auf der Pariser Weltausstellung

Die Redner des Online-Symposiums bestärken diese Position. Ernst Braeutigam von der Bayerischen Ingenieurekammer Bau, zuständig für die Oberpfalz, gliedert Eisen, Glas, Porzellan und Verkehrswege und bringt Vorschläge für Fahrradtouren. Ortsheimatpfleger Matthias Hammerl aus Teublitz nimmt sich die Glasschleife in Münchshofen vor. Franz Schmidkunz spricht über Chancen und Versäumnisse in der Industriestadt Maxhütte Haidhof, zeigt Werksanlagen, Direktorenvillen, Parks mit Blickbeziehungen bis nach Schwandorf oder Münchshofen und Abeiterhäuser, die nach Modellen errichtet wurden, die Werksdirektor Ernst Fromm von der Weltausstellung in Paris mitgebracht hat.

Beitragsfoto: Cordula Kerlikowski, 2019

Die kinetischen Dystopien der Catharina Szonn – Interview

Catharina Szonn studierte in Offenbach, Reykjavik Wien Malerei. Ihr Credo: Die Grenzen zu philosophischen Themen, Text und Sprache sind fließend und „Material ist Farbe“. Wenn die Künstlerin nicht gerade an ihren kinetischen Dystopien arbeitet, beschäftigt sie sich mit Texten.

In ihrer Kunst setzt sich Catharina Szonn mit Wirtschaft, Technik und Gesellschaft auseinander. Sie fragt: „Was wäre, wenn die Welt bereits nicht mehr zu retten wäre?“ – Indem sie so tut als würde sie die Zukunft zeigen, entdecken die Betrachter*innen ihrer rotierenden Werke, dass die Zukunft längst Gegenwart geworden ist.

Die Regensburger Schau „High Noon“ ist nach zahlreichen Gruppenausstellungen die dritte Einzelausstellung der Frankfurter Künstlerin. Vom 26. Mai bis zum 27. Juni 2021 ist sie jeden Mittwoch von 14.00 Uhr bis 19.00 Uhr im donumenta ART LAB Gleis 1 am Hauptbahnhof Regensburg zu sehen.

Catharina Szonn ist Künstlerin aus Frankfurt am Main. In ihrer Regensburger Ausstellung "High Noon" im donumenta ART LAB Gleis 1 zeigt sie kinetische Dystopien.
Vom 21. Mai bis zum 27. Juni zeigt die Frankfurter Künstlerin Catharina Szonn ihre Ausstellung „High Noon“ im donumenta ART LAB Gleis 1 am Hauptbahnhof Regensburg. (Fotos: Catharina Szonn)

Herzlich willkommen, Catharina Szonn, zum Interview. Du betitelst die Installation im donumenta ART LAB Gleis 1 in der ehemaligen Fußgängerunterführung am Hauptbahnhof Regensburg mit „High Noon“. Was bedeutet dieser Titel im Hinblick auf Ihre Arbeit?

Dieser Titel bezieht sich nicht unbedingt auf das Duell im gleichnamigen Western, aber man hat natürlich sofort dieses „Zwölf Uhr mittags“ im Kopf. Für mich bedeutet diese Metapher: Es ist höchste Zeit, etwas zu tun. Ist es fünf vor zwölf oder bereits fünf nach zwölf?

„High Noon“ – höchste Zeit zu handeln: auch im Bezug darauf, dass schon die nächste und übernächste Generation die Welt nicht mehr so vorfinden wird wie wir. Wenn es nicht einen Turn gibt, bekommen wir aller Voraussicht nach noch ein größeres Problem. – Daher „High Noon“ als Methaper für die dystopische Interpretation, die ich in der Ausstellung zeige.  

Deine Installation zeigt, was übrig bleibt von Wirtschaftswunder und Leistungsgesellschaft. Mit einer knallbunten dystopischen Maschinerie fragst Du Dich, was wäre, wenn die Welt heute schon nicht mehr zu retten wäre. Wie wurde dieses Thema zu Deinem Thema?

Was wäre, wenn die Welt heute schon nicht mehr zu retten wäre?Das ist sicher ein griffiger Text, der am Anfang der Konzeption meiner Regensburger Ausstellung stand. – Was ist, wenn es schon zu spät ist? Was ist, wenn kein Turn mehr möglich ist?

Im Vorfeld meiner Ausstellung beim Kunstverein Konstanz vor ein paar Monaten ist mir klar geworden, dass ich mich mehr oder weniger auf die Zeit des neoliberalen Kapitalismus beziehe. Einige meiner Objekte stammen aus den 70er und 80er Jahren. Damals begann dieses: Wenn Du es in dieser Gesellschaft nicht schaffst, dann bist Du selber schuld. Das vergegenwärtigen auch diese Objekte für mich. Diese Mensch-Maschine-Thematik ist eine Metapher für den Menschen im gesellschaftlichen Gefüge. Die Maschine ist auch eine Art performende Person. Es stellt sich die Frage nach Leistung und Wachstum. – Was bleibt übrig? Was passiert mit den Maschinen, die nicht mehr gebraucht werden? Die Maschinen aus den 70er und 80er Jahren funktionieren noch sehr gut, aber repräsentieren heute auch das Analoge in der technologischen Entwicklung.

Außerdem habe ich mich für diese Ausstellung mit anderen Zukunftsthemen beschäftigt und auch das Thema Raumfahrt verfolgt, die Landung dieses Roboters auf dem Mars. Ab 2025 soll die erste Müllabfuhr im Weltall starten. Als Astronaut*in kann man sich schon jetzt bewerben und sich so an einer weiteren Erschließung des Weltraums beteiligen. Diese Expansionsgedanken stehen dann im Gegensatz dazu, dass das Weltall ja nicht als Exitstrategie herhalten soll, sonst stehen wir dort bald vor ähnlichen Problemen wie jetzt auf der Erde. – Was ich als Künstlerin mache, ist eine poetische Verhandlung darüber, wie die Zukunft, mit allen Herausforderungen die uns bereits in der Gegenwart umgeben, aussehen könnte.

Wenn wir beide miteinander reden treffen zwei Generationen aufeinander. Du bist 1987 geboren, ein paar Jahre nachdem die Grünen zum ersten Mal in den Bundestag einzogen, ich mitten im Wirtschaftswunder. Wie lautet Deine Kritik an meiner Generation?

Mir fällt es schwer zu sagen, Du bist jetzt schuld. Es wurden Fehler gemacht und falsche Entscheidungen getroffen. Entscheidend ist für mich, dass man mit dem Wissen, das man jetzt hat, keine neuen Fehler macht. Mit aktuellen Daten, die über Jahre gesammelt wurden, kann man zum Teil bessere Prognosen stellen als vor 20 Jahren, Zukunft anders gestalten. Vielleicht muss man … ich meine, wie will man zum Beispiel aus dem Kapitalismus herauskommen? – Wenn ich eine Kritik äußern würde, würde ich fragen, wo sind wir im Hinblick auf den Klassismus heutzutage. Begriffe wie Arbeit oder Arbeitsgesellschaft sind im Wandel. Welche Personen sind mit working class gemeint? Welche Identifikation findet mit einem Begriff wie Arbeiter*innenklasse statt? Wer ist da gemeint und wer ist davon ausgeschlossen? Wie gelingt gesellschaftlicher Aufstieg und für wen?

Ich versuche meine künstlerische Arbeit auf eine poetische Art offen zu halten. Ich beobachte und kommentiere, was ich wahrnehme. Ich würde mich auch primär nicht als politische Künstlerin bezeichnen, wenngleich es nicht unpolitisch ist, was ich zeige: Wirtschaftsprozesse, Produktionsprozesse etc.

Einen Teil Deines kreativen Lebens widmest Du dem Schreiben und der Kunst-Kommunikation. Du bist Mitherausgeberin der Online-Magazine AFAIR und DER TYP. Worum geht es da?

Schreiben hat sich bei mir während des Studiums entwickelt. Mit Sarah Reva Mohr habe ich dann auch zusammen mehrere Online-Zine herausgebracht, bei denen wir Text und Bild immer wieder in einen Dialog gebracht haben. AFAIR ist als Weiterentwicklung von DER TYP zu verstehen. Schreiben ist aber eine Konstante in meiner Arbeit geblieben. In meinem Notizbuch notiere ich ziemlich viel. Zwar betreibe ich keine literarische Schreibpraxis, aber ich führe ein eigenes Gedankenbuch. Das ist für mich so eine Art Sammelsurium, aus dem ich Gedanken herausnehme und ausformuliere, Texte und Konzepte entwickle. 

Wichtig im kreativen Prozess sind außerdem Screenshots. Für „High Noon“ habe ich zum Beispiel über 500 Screenshots gesammelt, von den Atombombentests der 50er bis hin zu Reifenstoppern für LKWs, die als Material dienen können. Technisch lote ich dann aus, was geht. Durch die Screenshots nimmt meine Recherche Form an. Aus diesem Kosmos schöpfe ich dann für meine Arbeit.

Du hast in diesem Jahr ein Stipendium im Künstlerhaus Lukas in Ahrenshoop. Woran wirst Du arbeiten?

Ich hatte mich mit dem Thema „Scheitern und Versagen“ beworben. Allerdings werde ich das Thema höchstwahrscheinlich modifizieren und zum Thema Resilienz arbeiten. Auch dazu gibt es bereits einen Ordner mit Screenshots. Ich werde mich mit der Widerstandsfähigkeit und dem Durchhaltevermögen auch in „schwierigen Lebensphasen“ in Bezug auf die Mensch-Maschine-Thematik beschäftigen.

Danke für das Gespräch.

Das Interview führte Julia Weigl-Wagner am 7. Mai 2021

„Klang ist ein Geheimnis“ – Interview mit Bernd Bleffert

Bernd Bleffert ist Klangkünstler. 1955 in Altenahr, Rheinland-Pfalz geboren, gehört er zu den Gründern des Ensembles für experimentelle Musik „Tonwerke Trier“ und ist einer der Köpfe des Festivals für Aktuelle Klangkunst „Opening“. Seit etwa 20 Jahren arbeitet Bleffert an Klanginstallationen in Naturräumen und im Kontext von Ausstellungen. Vom 26. März bis zum 2. Mai sind seine Arbeiten im donumenta ART LAB Gleis 1 in der ehemaligen Fußgängerunterführung am Hauptbahnhof Regensburg zu sehen und zu hören. – Bis auf Weiteres pandemiebedingt erst einmal als Online-Führung.

Herzlich willkommen, Bernd Bleffert in Regensburg. Ihre Kurzvita erzählt, dass Sie als Musiker zur Klanginstallation kamen. Wie verlief dieser Weg?

Dieser Weg hat in meiner Jugend begonnen und teilweise sogar noch früher. Dort liegen die Wurzeln. Das sind neben dem für meine jetzige Arbeit eher unwesentlichen Musik- und Instrumentalunterricht vor allem Klangerlebnisse in der Natur … – Ich bin an einem Fluss aufgewachsen und als Kind regelmäßig mit den sich im Jahreslauf verändernden Rauschklängen eingeschlafen. Aber auch die Klänge eines Sägewerks mit Zimmerei haben sich mir eingeprägt. Erste Klang-Experimente fanden in dieser Zeit statt. Später habe ich daran anknüpfen können. Auf der Suche nach neuen Klangfarben habe ich aus Metallen, Hölzern und Steinen Schlagwerke gebaut und diese dann im Kontext freier Improvisation gespielt. So kam eines zum anderen und führte schließlich zu Klangobjekten und Installationen, die nicht mehr nur von mir selber aktiviert oder bespielt werden, sondern interaktiv funktionieren. 

Was ist Klang?

So klingen fliegende Knochen – Bernd Blefferts Spiel mit Materialien (Foto: Julia Weigl-Wagner)

Klang ist und bleibt ein Geheimnis, das man nicht wirklich ergründen kann. Natürlich kann man es physikalisch erklären, durch Schwingungen etc. Dennoch ist dies nur ein Teil dessen, was da wirklich vor sich geht. Wenn sich also zwei Dinge begegnen oder anstoßen, entsteht Klang. Aber dass wir ihn hören, ist dennoch ein Mysterium. Klang hat etwas mit Begegnung zu tun und auch mit Berührung. Berührung meine ich im doppelten Sinne. Physich sichtbar wie hörbar berührt ein Klang uns immer auch seelisch. Das kann angenehm oder unangenehm sein. In jedem Fall berührend.

Welche Ansprüche stellen Sie an eine Klanginstallation? Was macht eine gute Klang-Installation aus?

Das kann ich nur für meine eigenen Arbeiten beantworten. Klangkunst gibt es unter diesem Begriff etwa seit den 1960er Jahren. Die meisten Arbeiten wurden und werden elektronisch, mechanisch oder digital realisiert. – Ich folge einem anderen Ansatz und sehe mich auf dem Feld von Soundart in gewisser Weise als Exot. Im Gegensatz zu meinen Kollegen beschäftige ich mich mit analogem Klangmaterial. Je einfacher die Dinge sind, wie zum Beispiel rieselnder Sand oder tropfendes Wasser, um so reizvoller erscheint es mir, sie für eine Installation zu verwenden. Ich suche einfache, eher unspektakuläre Klänge, die dann in eine Form transferiert werden, die wiederum den Anspruch hat, einfach zu erscheinen. Wenn Inhalt – in diesem Fall der Klang – mit der Form, also der plastischen Gestalt übereinstimmt, nähere ich mich einem Zustand der Zufriedenheit 🙂 

Im donumenta ART LAB Gleis 1, der ehemaligen Fußgänger-Unterführung am Hauptbahnhof Regensburg ist es ja nicht gerade leise. Was inspirierte Sie bei Ihrer ersten Begegnung mit diesem Ort und wie integrieren Sie die vorhandenen Geräusche?

Ja, diese Röhre ist in gewissem Sinne eine Herausforderung. Zumal einige meiner Arbeiten sich nicht auf Lautstärke kaprizieren. Ganz im Gegenteil dazu ist Stille für mich ein zentrales Anliegen und Ansatz meiner klangkünstlerischen und musikalischen Arbeit. Die Unterführung selbst ist ja mit ihren 60 Metern kein kleiner Raum, aber sie schafft neue Möglichkeiten. Einzelne Arbeiten, auch neue, für diese Situation geschaffene, fügen sich in dieser Röhre zu einer neuen Gesamt-Installation. Das ist das Spannende an der ganzen Sache.

Das Integrieren der Klangkulisse des Hauptbahnhofes in diese Röhre hat mich begeistert. Es ist ja ein überlagerter Vorgang. Da geschieht etwas, das ich nicht steuern kann, nicht steuern will. Das trifft einen weiteren wesentlich Aspekt meiner Arbeit, den Zufall. Eine interessantere Begegnung mit dem Zufälligen kann man sich kaum vorstellen. Hinzu kommt, dass ein Hauptbahnhof ein ganz besonderer Kosmos ist – zentral und von besonderer gesellschaftlicher Relevanz. „Die Mysterien finden im Hauptbahnhof statt.“ – Dieses Zitat von Joseph Beuys bringt es auf den Punkt! Insofern fühle ich mich auch sehr geehrt, dort diese Ausstellung realisieren zu können.

Sie leiten das Festival „Opening“ für aktuelle Klangkunst in Trier. Was macht den Charakter dieses Festivals aus?

Dieses nun seit 20 Jahren existierende Festival beschäftigt sich mit Klangkunst im weitesten Sinne. Das heißt, es gibt ein Konzertprogramm Neuer Musik über drei Tage und parallel dazu eine vierwöchige Klangkunstausstellung, die immer wieder aktiv bespielt wird.

Das „Opening“ ist ein Ort der Begegnung von Publikum und Künstlern und gleichzeitig ist es ein innovativer Raum künstlerischer Auseinandersetzung in weitestem Sinne. Unser Ziel ist es, einem breiteren Publikum Neue Musik und Klangkunst nahe zu bringen. Wir wollen Brücken schlagen und für dieses Genre werben. Das Festival hat für die agierenden Künstler Werkstattcharakter und ist damit ein temporärer Ort für neue Schöpfungen, Experimente usw. Kurz gesagt: Entwicklung und Realisierung von Neuem stehen im Zentrum. „Opening“ ist besonders auch ein Forum für junge Künstler und Komponisten, die am Beginn ihrer musikalischen Karriere stehen. Das Festival hat mittlerweile viele Uraufführungen zu verzeichnen, Geburtsakte von großem Interesse und oft auch Werke, die explizit für das Festival entstanden sind.

Wenn es um Klang geht, dann stehen Sie für Spiel- und Experimentierfreude, für Innovation auf diesem Gebiet. Sie arbeiten zum Beispiel auch in Naturräumen. Was kommt als nächstes?

Im Augenblick ist das auf Grund der aktuellen Situation ja kaum zu sagen, weil alles kaum planbar ist. Dennoch bleibt die Möglichkeit, sich in den eigenen Räumen mit den Themen zu beschäftigen, die sich künstlerisch stellen. Soviel ist jedenfalls klar, ich werde meinen Weg fortsetzen, auf der Suche nach dem Wesentlichen, werde ich den einfachen Dingen auf der Spur bleiben. Diese aktuelle erzwungene Pause werde ich nutzen und mich von den Einschränkungen nicht gefangen nehmen lassen. Die Kunst lässt sich nicht einschränken, allenfalls unser Empfinden wird davon berührt. Das Wesentliche scheint mir aber jenseits dieser allgemein vielleicht überbetonten Empfindlichkeit zu liegen: Ich will es jedenfalls als Herausforderung annehmen.

Immerhin ist neben dem verschobenen Opening-Festival im Sommer eine Ausstellung im September in Krefeld geplant, auf die ich mich sehr freue!

Bernd Blefferts Installation „Garten der Erinnerung“ im donumenta ART LAB Gleis 1 am Hauptnahnhof Regensburg. (Video Julia Weigl-Wagner)

Danke für das Gespräch

Das Interview führte Julia Weigl-Wagner am 11.03.21

Hans Dieter Trayer (*1941), Schauspieler

Hans Dieter Trayer ist Schauspieler und Schauspielcoach (Trayer Studio München für Schauspielcoaching und Präsentationscoaching). Sowohl in der einen als auch in der anderen Rolle arbeitet er nach der Methode des amerikanischen Schauspiellehrers Lee Strasberg ( * 1901 † 1982). Um eine Figur möglichst wahrhaftig darzustellen, findet er Situationen in der eigenen Biografie, denen er im Schauspiel nachspürt.

Am 15. Februar 2021 feierte der Münchner Schauspieler seinen 80. Geburtstag. Herzlichen Glückwunsch!

„Das Leben – ein Spiel“ ist die kurze Biografie Hans Dieter Trayers. Mein Text beruht auf zwei lebensgeschichtlichen Interviews und vielen Fragen.

Textauszug:

Schauspielen ist Leben

Im Training bei Schauspiel-Coach Susan Batson spielt Hans Dieter Trayer in einer Szene aus „Who is afraid of Virginia Wolf“ den George. Für sein Gegenüber im Spiel, seine Ehefrau Martha, wählt der Schauspieler den Charakter seiner Mutter. Im begrifflichen System der amerikanischen Schauspieltrainerin ist das ein „character private moment“. – „Das hat mich so aufgerissen. Ich konnte schreien und heulen. Das war sensationell. Susan hat danach zu mir gesagt, ich hätte noch ein paar Stunden weitermachen können. Ich lag da so drauf“. 

Biografisch gesehen verbindet dieser Kommentar die vielen Momente im Leben von Hans Dieter Trayer. Es sind Momente, die passen. – Dabei fällt ihm manches zu, manches muss er sich erkämpfen oder erarbeiten und genauso ist es bei seinen Rollen.

Für uns war es das Paradies

Am 15. Februar 1945 feiert Hans Dieter Trayer seinen vierten Geburtstag. Eine Woche später sterben innerhalb von 20 Minuten 17.600 Menschen beim Bombenangriff auf Pforzheim. Zu den Opfern der britischen Luftangriffe zählen zwei Tanten und eine fünfjährige Cousine. Ein Onkel wurde als 17-Jähriger gegen Ende des Krieges eingezogen. Drei Monate später ist er tot. – Eine Familie, viele Opfer.

Am 23. Februar 1945 zerstören Bomben 98 Prozent der Gebäude in Pforzheim, darunter das Haus der Großeltern, in dem auch Hans Dieter Trayer mit seinen Eltern und der dreieinhalb Jahre älteren Schwester Renate wohnt. Die Familie überlebt. Die Mutter mit den Kindern, weil sie sich bei einer Freundin auf dem Land einquartiert hatte, der Vater, weil er als Soldat zum Kriegsdienst eingezogen wurde. Hans Dieter Trayer verliert Freunde und Spielsachen. Was wirklich passiert ist, wird sich erst dem Erwachsenen erschließen.

Mit Mutter und Schwester verbringt der Vierjährige bereits vor dieser zerstörerischen Nacht des 23. Februar 1945 die Stunden des Bombenalarms. In der Nähe des großelterlichen Hauses bietet ein Stollen Schutz. – Heulende Sirenen, ein zum Luftschutzkeller umfunktionierter unterirdischer Gang und der Spielplatz mit Sandkasten im Stadtpark gegenüber sobald es Entwarnung gibt, gestalten die Szenerie, in der Hans Dieter Trayer die letzten Kriegstage erlebt. Es ist gleichzeitig die Kulisse der ersten Kindheitserinnerungen des späteren Schauspielers. „Da hab ich die Erfahrung gemacht, dass man jeden Moment tot sein könnte.“

Julia Weigl-Wagner: Hans Dieter Trayer / Das Leben – Ein Spiel, 2021

Selbstverlag

Foto: Christian Dlusztus

Update – Baukultur in der Oberpfalz

Zwei Kataloge – ein Titel „Aktuelle Architektur der Oberpfalz“, Band I und IV. Dazwischen liegen 20 Jahre. Der aktuelle Band ist doppelt so dick und doppelt so interessant.

Wer sich mit beiden Publikationen beschäftigt, erfährt, was sich in der Zwischenzeit getan hat. Während sich Architektinnen und Architekten vor 20 Jahren im Kampf gegen den Flächenfraß gebauter Scheußlichkeiten auf die reine Form konzentrierten, um an den Kern einer neuen Baukultur zu gelangen, beflügelt heute eine neue Freiheit das Bauen in der Oberpfalz. – So wie beim Verwaltungsgebäude der Ziegler Group in Plössberg. Dort sieht man den Wald vor lauter Bäumen nicht, weil es kein Wald ist sondern ein Haus. Aus vertikal aneinander gereihten Baumstämmen formen Brückner & Brückner Architekten die massive wie filigrane Hülle lichtdurchluteter Arbeitsräume. Der Blick hinaus ins Freie verbindet 100 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit dem Zieglerschen Produkt. Holzstämme soweit das Auge reicht. „Im Dunkeln leuchtet das Haus wie eine hölzerne Laterne im Wald.“ – Das ist Poesie, nicht nur Holzwirtschaft, umgesetzt in ein Haus.

Feiner Monolith, in der Ortsmitte gelandeter Meteorit

Einen feinen wie monolithischen Akzent setzt die FIT AG in die Monotonie eines Gewerbegebiets. Das Unternehmen für additiven Fertigung findet im Architekturbüro Berschneider + Berschneider einen innovationsgetriebenen Sparringspartner, der wie die FIT AG weit über das rein Technische hinausgeht. – Stellen Sie sich eine Blumenwiese vor, die aufrecht vor Ihnen steht. So sieht der 26 Meter hohe Würfel aus, der mit perforierten und anodisierten Edelstahlblechen verkleidet ist. Abhängig von der Außentemperatur changieren sie zwischen grün, gelb, orange und rot.

Wie der Erstling ist auch die das neue „Best-Of“ vom Amberger Büro Wilhelm herausgegeben. Band IV liegt gut in der Hand, hat in jeder Hinsicht Gewicht und eine ansprechende Grafik mit viel Weißraum. Öffentliche Bauten wie Bildungs- und Kultureinrichtungen, Büro- und Verwaltungsgebäude sind weit stärker vertreten als das Wohnen. Das könnte ein Zeichen dafür sein, dass eingetreten ist, was Architekturjornalist Enrico Santifaller im Band I, erschienen 2000, kritisierte: „Es mangelt bisher am Vertrauen der Behörden, es hapert am Interesse der Öffentlichkeit, es fehlt bis heute die Initiative von Seiten der Bauherren und der Politik. Dem Gestaltungsbeirat in Regensburg fehlen bislang Nachfolger in anderen Oberpfälzer Städten“.

Und heute? Das öffentliche Bewußtsein für qualitätvolle Architektur ist gewachsen. Mit dem Konzerthaus Blaibach, ein (Ent)Wurf des Architekten Peter Haimerl ist ein Meteorit aus Sichtbeton in der Ortsmitte gelandet. Sein Fliegendens Schlachthaus auf Stelzen als multifunktionaler Treffpunkt für die Bewohner der Gemeinde Brand ist mehr als nur ein Haus. Es ist ein Instrument zur Revitalisierung eines Ortes.

Vereinszeichen der Oberpfälzer Architekten: Der spitze Hut

Der Markt Lapperdorf bei Regensburg hat Manfred Blasch mit der Planung für sein Kulturzentrum beauftragt. Das Ergebnis ist das Kulturzentrum Aurelium, ein Bau mit goldgelb schimmernder Außenhaut und überregionaler Ausstrahlung. Ein weiteres starkes Beispiel aus dem Kulturbetrieb – dieses Mal allerdings eine private Initiative – ist das Kunstpartner Schaulager. Die Planschmid-Architekten Birgit Rieger und Willi Schmid verwandelten das Dachgeschoss eines historischen Stadels in einen Schauraum für die Nachlässe regionaler Künstlerinnen und Künstler. Die halbtransparente Lattung und die dahinterliegende blaue Fassade wirken wie ein Dialog zwischen Diesseits und Jenseits – ein außergewöhnlich gelungener Ort.

In seinem Vorwort zu Band IV hat Till Briegleb den Spitzhut als Vereinszeichen der Oberpfälzer Architekten ausgemacht. Der großzügige Bautyp des Stadels werde hauptächlich im kulturellen Kontext gebraucht, als Identifikationszeichen, „wenn eine schlüssige Idee mit Ortswert formliert werden soll.“ Beispiele sind das Arelium in Lappersdorf, die Kulturhalle in Berching (Kühnlein Architektur) und das Schaulager in Adlmannstein. Kühnlein Architekten benutzt das Stadeldach auch im Wohnbau. Es ist eine Referenz an „die lokale Verbundenheit der oberpfälzer Architekten, ihrem Ehrgeiz (…)Tradition und Heimat in moderne Qualitäten zu verwandeln“, schreibt Briegleb.

Bauen ist Dialog mit der Umgebung, mit Menschen, Natur und dem kulturellen Erbe. „Aktuelle Architektur der Oberpfalz – Band IV“ bietet einen phantastischen Spaziergang für die Augen, darunter preisgekrönte Arbeiten wie etwa ein Wohnhaus aus Holz in Neumarkt in der Oberpfalz von Kühnlein-Architekten aus Neumarkt (Bundeswettbewerb Holzbau plus) auf dem Umschlag . „Erst war nix – jetzt is a bissl was.“ – So nüchtern, sachlich und oberpfälzisch, erklärte Herausgeber Wilhelm Koch vor mehr als 20 Jahren seine Motivation zum Band I. Jetzt ist viel mehr.

Warum? Seit den 90er Jahren traten Architektinnen und Architekten in einen öffentlichen Dialog über Baukultur und Gesellschaft. Wenige Jahre vorher hatten sie Vereine für Baukultur gegründet, in Regensburg den „Architekturkreis“, in Weiden, Sulzbach-Rosenberg und Amberg die „Gruppe Architopf“. Der Band I von „Aktuelle Architektur in der Oberpfalz widmete diesen Initiativen doppelseitige Portraits. Welche Früchte dieses Engagement trägt, zeigt Band IV.

Aktuelle Architektur der Oberpfalz Band IV – Beispiele aktueller Baukultur
Format: 21,0 x 28,0 cm
Umfang: 184 Seiten
Ausstattung: Otabind-Broschur, Fadenbindung
Erscheinung: 2021
ISBN: 978-3-948137-27-4
Preis: 19,80 Euro